Leseprobe: Die Gans

Wir leben in einer modernen Welt. Wissen Sie, woran man das merkt? Man merkt das daran, dass Hella und ich uns einer Paartherapie unterziehen. Ah ja? Ist das so ungewöhnlich?

 

Ja, ja. Hella und ich sind nämlich beide verheiratet, nur nicht miteinander, wie es so schön heißt, und selbst die Therapeutin in München zuckte bei unserer Vorstellung unwillkürlich mit der Augenbraue, als wir sie über unsere familiären Konstellationen in Kenntnis setzten. Ihre Verblüffung galt offensichtlich unserem Ansatz, der ein neues Kapitel in der kommerziellen Paartherapie aufzuschlagen schien, denn wir waren nicht gekommen, um mit ihr die Probleme unserer jeweiligen Ehe zu erörtern und um unsere kaputten Ehen zu retten - nein, wir waren als Paar zweiter Ordnung erschienen. Formal gesehen. Eine Ebene unterhalb der ehelichen. Und mit unserem Erscheinen demonstrierten wir, kein hedonistisches Verhältnis miteinander anzustreben, uns nicht mit einem einfachen Verhältnis zufrieden geben zu wollen, sondern in eine echte Beziehung verwickelt zu sein - und Beziehungen sind prinzipiell gefährdet - weshalb wir schließlich vor ihr saßen. Wir waren als Paar in die Praxis der Therapeutin gekommen, als ein Paar, das seinen Willen zum Zusammensein und -bleiben mit seinem Eintreten bewies, ohne die letzten Hürden des Zusammenkommens aus dem Weg geräumt zu haben. Wir waren noch verheiratet. Wir wollten für die Zukunft zusammenbleiben. Und weil wir die Schatten der Gefährdung spürten, die sich langsam auch über unsere Beziehung schoben, und wir wissen wollten, ob es möglicherweise die gleichen Schatten waren, die schon unsere Ehen zerstört hatten, saßen wir auf zwei Stühlen der Therapeutin gegenüber im Therapieraum. Denn wenn es die gleichen Schatten waren, musste unverzüglich gehandelt werden, ehe es wieder zu spät war, weil der in uns steckende Zwang zur Wiederholung uns über kurz oder lang in die gleiche fatale Konstellation des Scheiterns manövriert hätte, und wir uns, wie es unsere Gewohnheit ist, wiederum jeweils einem neuen Partner zugewandt hätten, von dem wir erneut Besserung erhofften. 

 

Die Sitzung bei der Therapeutin Mona hatte ich rechtzeitig erreicht. 

Um den Einsatz deutlich zu machen, den ich für diesen Termin erbracht hatte, erwähnte ich beim Betreten des Raumes, was mir widerfahren war und dass ich bewusst auf eine Umkehr bei der Raststätte Greding verzichtet hatte, obwohl mein Koffer speziell an diesem Wochenende für mich von immenser Wichtigkeit wäre. Ich selber sei rechtzeitig erschienen, der Koffer hingegen stünde im Hausflur in Ochsenfurt und harre der Dinge, die da kommen sollten. Er müsse unter allen Umständen zu mir nach München. Ich brauche meinen Koffer. Ich hätte das nicht sagen sollen. 

 

Mona sah die Angelegenheit aus einer anderen Perspektive und meinte, ein zu Hause vergessener Koffer - "vergessen" war für sie natürlich nur eine die dahinter stehenden Beweggründe verschleiernde Vokabel - würde bedeuten, man sei nicht gewillt, seine Wohnung aufzugeben. Sie sagte es leichthin, als wir unsere Sitze einnahmen. Ich sei nicht gewillt, meine Wohnung aufzugeben.

 

Als Hella das hörte, verließ die blaue Farbe ihre Augen und sie fielen in ein tiefes Schwarz. Hella hatte mir schon häufig vorgehalten, ich sei im Grunde meines Herzens nicht bereit, meine Arbeitsstelle in Ochsenfurt aufzugeben, um nach München zu ziehen. Jetzt hatte sie ganz beiläufig die Bestätigung seitens Mona erhalten - und ich sah einem Wochenende mit tiefschwarzen Augen entgegen und konnte zusehen, wie ich sie wieder blau bekäme.

 

Ich ärgerte mich. Ich hätte bei der Raststätte Greding doch umkehren und den Vorwurf, den Termin nicht zu respektieren, einfach hinnehmen sollen… Aber... wobei das auch zu nichts geführt hätte, denn dann hätte ich begründen müssen, weshalb ich nicht zur Sitzung gekommen wäre und man hätte mein eigentliches Motiv, weshalb ich den Koffer im Hausflur hatte stehen lassen, flugs herausinterpretiert – eine Interpretation, die nicht zu meinen Gunsten verlaufen wäre. Und den Termin hätte ich damit zusätzlich nicht respektiert. Ich hätte dann zwei Fliegen mit einer... Vor einigen Wochen hatte sie einen Diesel versehentlich mit Benzin aufgetankt, vorher war sie in eine Radarüberwachung geraten und, da sie die Geschwindigkeit um 30 km/h überschritten hatte, geblitzt worden, und davor hatte sie ihren Autoschlüssel auf einem unübersichtlichen Wiesen- und Waldgrundstück verloren, und wir konnten den Schlüssel nicht finden, zumal es dunkel geworden war und eine Menge Laub auf dem Boden lag. 

 

Es raschelte vor lauter Laub. Vor lauter dunklem Laub. Daraufhin liehen wir uns jenen Wagen, den sie dann mit Diesel statt mit Benzin auffüllte. Alles innerhalb von weniger als drei Stunden. Und alle haben sie bedauert. Trost und Zuneigung hat sie geerntet im Übermaß. Wir haben unserer Therapeutin Mona ebenfalls davon erzählt, das heißt, ich erwähnte die Vorkommnisse, die Hella keiner Erwähnung wert schienen. Ich war voller Hoffnung, Mona werde eine analytisch scharfe Deutung parat haben, die die darunter liegende Motivationsebene ausleuchtete. Nichts dergleichen. Mona lachte nach meiner kurzen Erzählung und sagte zu Hella, oh, du Arme. Ich wiederholte die Sache mit dem verwechselten Tankstutzen, durch den eine falsche Kraftstoffflüssigkeit zugeführt wurde und hoffte ein weiteres Mal, Mona würde die doch ins Auge springende Symbolik aufdecken. Vergeblich. Denn Mona fand gerade diese Verwechselung komisch und tragisch, da kostspielig durch die anschließende Tank- und Motorenreinigung und meinte, das hätte ihr auch passieren können.

 

Leseprobe: Die Frau

Nach Petersburg kommen jährlich mehr als eine Millionen Besucher, und ein nicht unerheblicher Teil davon wollte offenbar ausgerechnet diesen Abend mit uns zusammen im Theater verbringen. 

 

Der Andrang war enorm, und die Menge quoll und quetschte sich ins Foyer und verströmte sich im Saal. Das Parkett und die Ränge waren gefüllt, bei den Stehplätzen herrschte Andrang, alles war überfüllt mit erwartungsgespannten Menschen, die dem Heben des Vorhangs entgegensahen, und wir saßen inmitten der erwartungsfrohen Reihen und teilten die Hochstimmung.

Auf einmal machte es einen Plumps, und ein Buch fiel der vor mir sitzenden Dame von ihrer Armlehne herunter und landete auf meinem Fuß. Es tat nicht sehr weh, weil das Buch nicht voluminös war, aber es war auch kein Taschenbuch, und es traf mit einer seiner Ecken auf meinen Zeh unter dem Schuhleder.

 

Ich bückte mich, um das Buch aufzuheben, und war neugierig, was mir denn da Interessantes auf den Fuß gefallen war. Dick Francis „Straight“. Das war nun ein schwaches Stück, wie ich fand, enttäuschend, hier in Petersburg, gar im Mariinskij-Theater an einem englischsprachigen Jockey-Autor festzuhalten, der über irgendwelche kriminelle Machenschaften im Rennbahnmilieu schreibt, anstatt einer russischen Lektüre den Vorzug zu geben.

 

Die Dame hatte sich inzwischen umgedreht. Eine elegante Dame mit kurz geschnittenen grauen Haaren und einem markanten Gesicht, aus dem mich hellgraue, wache Augen forschend musterten. Ich war ein weiteres Mal enttäuscht, denn bei einer Dame mit einer derartig distinguierten Erscheinung hätte ich erst recht einen klassischen, russischen Lesestoff vermutet.

Ich reichte ihr das Buch.

 

Sie nahm es und war sich wohl nicht ganz sicher, mit welcher Nationalität sie es in meinem Fall zu tun hatte, oder was sie sagen sollte oder vielleicht las sie in meinen Augen auch meine Vorbehalte gegen ihre Lektürewahl, jedenfalls zögerte sie mit einer Bemerkung und nickte zunächst ihren Dank ab, murmelte dann etwas Unverständliches, was wohl russisch sein sollte, um sich danach doch für ein verstehbares Wort zu entscheiden und schlicht, thank you, zu sagen.

 

Ich antwortete, please, und nickte ebenfalls, und sie nickte erneut gemessen und drehte sich zurück nach vorne um.

Von da an gab es Streit mit Hella.

 

Ich hätte nicht please sagen dürfen. Ich hätte alles sagen dürfen, nur nicht please! Gott im Himmel, manchmal ist es nur ein falsches Wort!

Hella neigte sich zu mir und sagte, „da darfst du nicht please sagen. Du musst in so einer Situation you`re welcome, sagen. Nicht please.“ Sie sah mich durchdringend, fast strafend an.

 

„Sie hat mir ein Buch auf den Fuß geworfen“, rechtfertigte ich mich und sah sie ebenfalls durchdringend an.

„Das spielt doch keine Rolle“, erwiderte Hella, „du hast please gesagt und das ist falsch. Wenn sich im Englischen jemand bedankt, sagt man nicht wie im Deutschen, bitte, sondern you are welcome.“

„Aber sie hat mich doch verstanden“, sagte ich.

 

„Was verstanden?“

 

„Na, mein please.“

 

„Wieso verstanden! Es ist aber total falsch auf ein thank you mit please zu antworten.“ Sie funkelte mich an. Aus und vorbei mit den blauen Nordlichtaugen. 

 

„Das kann ja sein“, erwiderte ich und wurde allmählich ärgerlich, „dass es falsch ist, please zu sagen, aber wenn jemand einem ein spitzes Buch auf den Fuß wirft, kann man vieles sagen und ganz sicher auch please. Ich finde sogar, das please eine relativ harmlose...“

„Nein! Das spielt keine Rolle, was sie dir auf den Fuß wirft, und ob das Buch rund oder spitz ist. Es geht darum, dass im Englischen niemals please geantwortet wird, wenn jemand zuvor thank you sagt.“

 

„Das mag sein, dass es grammatikalisch richtiger ist...“

 

„Es ist nicht richtiger, es ist absolut falsch!“, unterbrach sie mich.

 

„Das mag ja sein, dass es semantisch falsch...äh... richtig ist, you`re welcome zu sagen, wenn sich jemand bedankt...“

 

„Allerdings ist es richtig!“

 

„... aber es ist doch blödsinnig, ‚Sie sind willkommen’, zu sagen, wenn einem ein Buch auf den Fuß geworfen wird...“

 

„Wieso...“

 

„Ich kann doch nicht ‚you`re welcome’, sagen, wenn sie mir ein Buch auf den Fuß wirft. Wenn ich ‚you`re welcome’ sage, nimmt sie noch ein Buch von der Nachbarin und wirft es mir wieder auf den Fuß, weil sie denkt, sie sei willkommen mit ihrer Werferei. Ich feuere sie doch damit an...“

 

„Mein Gott, bist du bescheuert!“, Hella schüttelte den Kopf, als ob sie es nicht fassen könnte.

 

Eine Pause entstand. Ich dachte mir, es sei nicht gut, die Pause zu lang werden zu lassen, denn mein Ärger begann zu wachsen.

 

„Ich glaub das nicht, sagte ich, dass man ‚you`re welcome’ sagt, wenn einem einer ein Buch auf den Fuß wirft. Das kann nicht sein. Wahrscheinlich sagt man auch nicht ‚please’...“

 

„Nein“, sagte sie wie aus der Pistole geschossen, „man sagt nicht ‚please!’ „

 

Ich nickte. 

 

„Wahrscheinlich sagt man, fuck off. Aber als höflicher Mensch habe ich anstatt mit fuck off mit einem etwas frostig ausgesprochen please gekontert, was möglicherweise semantisch nicht hundertprozentig korrekt ist, aber die Situation nicht eskalieren lässt, und die Dame hat zu verstehen gegeben, dass es nicht nett war, das Buch auf mich zu werfen.“

 

„Du bist völlig schräg“, sagte sie und schüttelte erneut den Kopf. 

 

Sie überlegte und sagte dann: „Man kann vieles sagen, okay oder no problem oder forget it oder that´s all right ...“

 

„Ich finde das nicht besser“, sagte ich, „wenn einem ein spitzes Buch auf den Zeh geworfen wird, und es weh tut...“

 

„Ach du meine Güte“, sagte sie, „jetzt hat es auch noch weh getan!“

 

„Ja“, erwiderte ich, „und deshalb finde ich es absurd, sich beim Werfer mit der Floskel, er sei willkommen oder alles sei richtig, zu bedanken. Der Werfer oder die Werferin ist weder willkommen, noch ist alles nach dem Wurf in Ordnung. Richtig ist vielmehr, dass es falsch ist, mit Büchern auf anderer Leute Füße zu werfen...“

 

Die Dame vor mir mit dem Buch drehte plötzlich sich um und schaute mich aus ihren wachen, grauen Augen, die sie zur vollen Größe aufriss, verwundert an. Sagte aber nichts. Guckte nur forschend ohne Lidschlag auf mich.

Daraufhin sagte ich verbindlich mit dem Kopf ihr zunickend und zulächelnd, „please“, und sie nickte ihrerseits, zufrieden, wie es mir schien, denn sie lächelte verhalten, durchaus verbindlich könnte man sagen und wandte sich wieder zurück. Die Sache schien in Ordnung zu sein.

 

„Na bitte“, sagte ich, einen leiseren Ton wählend, „please scheint richtig zu sein.“

 

„Du meine Güte“, flüsterte Hella und schüttelte abermals den Kopf, „wie kann man nur so stur sein!“ Ich ärgerte mich. Ich wusste nicht genau, weshalb ich mich ärgerte, aber ich wusste, dass ich es tat. Zuweilen kann ich derartige Dinge wegstecken, bisweilen nicht so gut.